Reichweitenangst, das liebste Stammtischwort bei Diskussionen um die Elektromobilität, kann man in Zukunft wohl getrost vergessen. Schon heute ist es möglich, mit Elektroauto ohne Zwischenstopp eine Strecke von über 1000 Kilometern zurückzulegen, und stirbt keineswegs unter Laborbedingungen und in verkehrshinderlichem Bummeltempo. Den Beweis hat in der vorigen Woche Mercedes angetreten. Das Entwicklerteam führt von Sindelfingen durch die Alpen bis ans Mittelmeer nach Cassis.
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Als fahrender Untersatz diente den Stuttgarter Ingenieuren ihr Entwicklungsfahrzeug Vision EQXX. In der Limousine stecken bereits viele technische Details, wie sie in zwei Jahren in der nächsten Generation der Baureihe EQA zu finden sein werden. „Der EQXX ist die Blaupause für künftige Serienfahrzeuge“, sagt Projektleiter Malte Sievers, „wir lernen gerade sehr viel, bzw. es bei der E-Mobilität künftig ankommt.“
Der Hauptfokus liegt dabei klar auf Effizienz, nicht auf größeren Batterien. Denn Letzteres setzt eine Art Negativspirale in Gang. „Mehr Akkukapazität heißt mehr Gewicht, heißt, ich brauche mehr Leistung und in Folge größere Räder. Die aber haben mehr Rollwiderstand. Alles zusammen erhöht den Stromverbrauch“, so Sievers.
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Stromfresser Fahrtwind
Den weitaus größten Einfluss auf die Effizienz – mehr als 60 Prozent – hat allerdings die Aerodynamik. Der EQXX wurde daher extrem strömungsgünstig designt, ohne dabei aber zu einer flachen Flunder zu werden, in der keine Person mehr vernünftig sitzen kann. Besonders auffällig ist das langgezogene Heck. Es dient einem optimalen Strömungsverlauf. Insgesamt kommt der EQXX also auf den beeindruckenden cw-Wert von 0,17. Zum Vergleich: Das weltbeste Serienauto ist derzeit der Mercedes EQS mit 0,20, der ähnlich gestylte, aber etwase EQE 0,21 erreicht, ein SUV hat meist weit über 0,3 und schiebt eine entsprechend mächtige „Windwand“ vor sich sehr. In Folge steigt der Verbrauch massiv an. Kein Wunder, dass die meisten SUV-Sperrwerte von 25 bis 30 kWh pro 100 Kilometer erreichen.
Mit einer Batterieladung von Sindelfingen über die Schweizer Alpen an die Côte d’Azur: Der Mercedes Vision EQXX schafft die gut 1000 Kilometer mit einem Durchschnittsverbrauch von 8,7 kWh/100 km.
© Quelle: Mercedes-Benz AG
Für den EQXX undenkbar. Sievers und sein Team hatten sich eine Zielmarke von „unter zehn kWh/100 km“ gesetzt. Anders wären die 1000 Kilometer auch nicht zu schaffen. Im Boden des EQXX steckt eine Batterie mit einem Energieinhalt von 100 kWh. Soweit die theoretische Rechnung. Doch wie sieht es in der Realität aus? Immerhin wählte man eine Route durch die Alpen, mit einem Höhenunterschied von gut 1200 Metern, mit vielen Baustellen und Staus in Italien. Zudem hieß die Vorgabe Tagestrip. Start morgens um sieben in Sindelfingen, Ankunft 19 Uhr in Cassis.
Sparsamer als ein E-Smart
Am Zielort, nach exakt 1008 Kilometern, trauten die Mercedes-Entwickler und der mitgereiste TÜV-Prüfer – die Ladebuchse wurde versiegelt – ihren Augen nicht. Der Bordcomputer im EQXX zeigte als Verbrauch nur 8,7 kWh/100 km an. „Das ist der helle Wahnsinn“, freut sich Sievers, „so wenig benötigt ein Elektro-Smart bei konstant Tempo 60.“ In der Batterie des EQXX waren sogar noch 15 Prozent Restkapazität. „Wir hätten somit noch etwa 140 Kilometer weiterfahren können“, rechnet der Projektleiter vor. Das Ergebnis ist umso erstaunlicher, als auf den Autobahnen immer so schnell gefahren wurde, wie im jeweiligen Land maximal erlaubt ist. Für Deutschland wählte man das Eigenlimit von 140 km/h. Zudem machten niedrige Temperaturen und Regen in den Alpen die Sache nicht einfacher.
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Am Schluss der Reise bekamen wir Gelegenheit, für einige Kilometer auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen. Die Testfahrt machte deutlich, dass der EQXX sich keineswegs wie ein spartanisch abgemagertes Forschungsfahrzeug anfühlt, sondern möglicherweise Langstreckenkomfort besitzt, obwohl das Federverhalten durch die schmalen Reifen etwas zu wünschen übrig lässt. Am meisten hat jedoch der unglaublich geringe Fahrwiderstand, zu merken, sobald der Fahrer das E-Pedal lupft und der EQXX augenblicklich in den Segelmodus wechselt. Er rollt und rollt und rollt, als zuverlässig es keine physikalischen Gesetze mehr.
Technologieträger für den nächsten EQA
Was die Mercedes-Marathon-Tour ausdrücklich nicht suggerieren soll, ist, dass die künftige Kompaktklasse 2024 ebenfalls bis zu 1000 Kilometer Reichweite erhalten wird. Einfließen in die Serie aber soll vermutlich die verwendete Lithium-Ionen-Batterie mit neuer Zellchemie und ihren speziellen Silizium-Anoden – nur eben mit deutlich weniger Kapazität als die 100 kWh im Forschungsfahrzeug. Schon etwas mehr als die Hälfte des Energieinhalts würde eine Reichweite von alltagstauglichen 500 Kilometern ergeben, dabei deutlich Gewicht und Kosten einsparen.
Ebenso dürfte in der EQA-Baureihe dann der neu entwickelte E-Motor stecken, dessen Wirkungsgrad Mercedes mit rekordverdächtigen 95 Prozent angibt. Käme dann noch die hohe DC-Ladeleistung des EQXX hinzu, dessen Akku 300 „frische“ Kilometer in nur 15 Minuten aufnehmen kann, müssten sich Kunden eigentlich keine Gedanken mehr darüber machen, wie er seinen nächsten elektrischen Urlaub unter die Räder nehmen könnte.
Quelle: www.rnd.de